F2    Die relativistischen Korrekturen


Welche Eingriffe nimmt die SRT am Gebäude der klassischen Physik vor, um die inneren Widersprüche zwischen der Mechanik, dem Relativitätsprinzip und der Theorie des Elektromagnetismus zu beseitigen? Es sind eigentlich wenige - dafür sehr fundamentale:

  1. Zeitmessungen sind immer auf ein Koordinatensystem bezogen und nicht universell
  2. Längenmessungen sind immer auf ein Koordinatensystem bezogen und nicht universell
  3. Die träge Masse ist (ebenfalls) abhängig von der Relativgeschwindigkeit
  4. Energiezufuhr bedeutet auch eine Zufuhr von träger Masse

Die Details zu diesen Eingriffen sind in den vorangegangenen Kapiteln genau erarbeitet worden. Welches sind jetzt aber die Folgen für die 4 wichtigsten Grössen der Physik und die zugehörigen Erhaltungssätze?

  1. Der Erhaltungssatz für elektrische Ladungen gilt weiterhin unverändert
  2. Der Erhaltungssatz für die träge Masse verschmilzt mit demjenigen für die Energie zu einem einzigen Erhaltungssatz, da ja jeder Energiemenge eine bestimmte träge Masse entspricht und umgekehrt
  3. Der Erhaltungssatz für den Gesamtimpuls gilt weiterhin, wobei neu der Impuls als  mv·v zu  berechnen ist, die Masse also abhängig ist von der Relativgeschwindigkeit


Was bleibt von den drei Newton’schen Gesetzen übrig? Interessanterweise bleiben alle drei unverändert gültig, es muss einzig die relativistische Präzisierung des Impulsbegriffes berücksichtigt werden. Insbesondere gilt also weiterhin  F = dp/dt .

Und wie steht es mit den Kraftwirkungen und den zugehörigen Kraftfeldern? Gibt es weiterhin deren drei? Hier ist die Antwort ein “ja, aber ...”. Die SRT bringt ja die Maxwell’sche Theorie zur uneingeschränkten Gültigkeit in allen Inertialsystemen, es ist daher nicht verwunderlich, dass das Coulomb-Kraftgesetz und dasjenige zur Lorentz-Kraft weiterhin gelten. Bei der Erzeugung der entsprechenden Kraftfelder gibt es nicht die kleinste Änderung. Das ’aber’ bezieht sich auf die Erzeugung des Gravitationsfeldes: Die sofortige Fernwirkung von Massen in Newtons Gravitationsgesetz widerspricht dem Ergebnis der SRT, dass c eine Grenzgeschwindigkeit für Massen-, Energie- und Informationsübertragungen ist. Diese Fernwirkung durch den leeren Raum war übrigens auch Newton selber etwas unheimlich. Am Ende seines grossen Werkes [2-515f] schreibt er dazu:

"Bisher habe ich die Erscheinungen am Himmel und in unseren Meeren mit Hilfe der Kraft der Schwere erklärt, aber eine Ursache für die Schwere habe ich noch nicht angegeben. Diese Kraft rührt zweifellos von irgendeiner Ursache her, welche bis zu den Mittelpunkten der Sonne und der Planeten vordringt ... Ihre Einwirkung breitet sich nach allen Seiten hin bis in unermessliche Entfernungen aus, wobei sie im zweifachen Verhältnis zu den Entfernungen abnimmt. ... Den Grund für diese Eigenschaften der Schwere konnte ich aber aus den Naturerscheinungen noch nicht ableiten, und Hypothesen erdichte ich nicht. ... Es genügt, dass die Schwere wirklich existiert, entsprechend den von uns dargelegten Gesetzen wirkt und für [die Erklärung] alle[r] Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres ausreicht."


Einstein hat ab 1906 daran gearbeitet, die Gravitation in die SRT zu integrieren. 1907 hat er mit dem Äquivalenzprinzip einen Angriffspunkt gefunden. Es brauchte aber noch Jahre harter Arbeit und die Hilfe von befreundeten Mathematikern, bis er Ende 1915 die bis heute gültige Gleichung vorlegen konnte, welche Raum, Zeit und Gravitation umfasst und dieses Problem gelöst hat. Das Äquivalenzprinzip hat er später “den glücklichsten Gedanken meines Lebens” genannt. Mehr dazu folgt im nächsten Kapitel, welchem zufälligerweise der Buchstabe G (wie Gravitation) zugeordnet ist.

Wir wollen uns noch dem neuen Erhaltungssatz zuwenden, der die beiden separaten Erhaltungssätze für die Masse und die Energie ablöst. Er kann wahlweise als Erhaltungssatz für die gesamte träge Masse in einem abgeschlossenen System formuliert werden, wobei alle Energiebeträge ∆Ei mit ihrem Beitrag  ∆Ei /c2 bei der Massebilanz mitgezählt werden müssen - oder aber als Erhaltungssatz für die gesamte Energie, wobei dann alle beteiligten Massen mi mit dem Betrag     mi ·c2 in die Energiebilanz eingehen. Meist wird diese zweite Darstellung bevorzugt. Ich möchte die beiden äquivalenten Möglichkeiten an einem Beispiel illustrieren:

Denken wir uns einen ungeladenen Kondensator der Ruhemasse mo . Welche gesamte Masse steuert er zur Bilanz bei, wenn er zuerst geladen und dann noch beschleunigt wird? Beim Laden wird ihm die Energie  ∆E = 0.5·C·U2 zugeführt, daher nimmt seine Ruhemasse um den Betrag   ∆E/c2 zu. Diese erhöhte Ruhemasse ist dann noch durch den Wurzelterm zu dividieren, wenn der Kondensator beschleunigt worden ist. Dies liefert den gesamten Beitrag  (mo + ∆E/c2 )/√  für die Massebilanz.
Der gesamte Beitrag zur Energiebilanz berechnet sich folgendermassen: Da ist die Ruheenergie mo·c2, dann die Energie ∆E = 0.5·C·U2, die beim Laden des ruhenden Kondensators zugeführt wird, und schliesslich noch die kinetische Energie nach dem Beschleunigen. Beschleunigt wird aber nach dem Laden, also der schon etwas schwerere geladene Kondensator wird beschleunigt, und wir müssen deshalb für die kinetische Energie  (mo + ∆E/c2)·c2·( 1/√ - 1 ) einsetzen. Total haben wir also  mo·c2 + ∆E + (mo + ∆E/c2 )·c2·( 1/√ - 1 )  =  (mo + ∆E/c2)·c2 / √ , was genau dem Beitrag bei der Massebilanz multipliziert mit dem Faktor c2 entspricht !

Es ist also recht willkürlich, aber nicht falsch, wenn man diesen umfassenden Erhaltungssatz immer noch als ‘Erhaltungssatz der Gesamtenergie’ bezeichnet. Genauso richtig wäre die Bezeichnung als ‘Erhaltungssatz der Gesamtmasse’, die beiden Bilanzen unterscheiden sich nur um den Faktor c2 auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens:

∑ Etot,i (vorher)  =  ∑ Etot,j (nachher)                 oder               ∑ mv,i (vorher)  =  ∑ mv,j (nachher)

Soviel zur Physik aus der Adlerperspektive. Die folgenden Abschnitte bringen Beispiele zu diesen jetzt noch 3 Erhaltungssätzen. Sie zeigen damit auch, dass die Welt ohne SRT nicht verstanden werden kann.

 




Karrikatur von Sidney Harris     ©ScienceCartoonsPlus.com