F1    Die ganze Physik


Die vier wichtigsten Grössen der ganzen Physik sind

1.    die elektrische Ladung, ein Skalar mit dem Formelzeichen q und der Masseinheit Coulomb
2.    die Masse, ein Skalar mit dem Formelzeichen m und der Masseinheit Kilogramm
3.    der Impuls, ein Vektor mit dem Formelzeichen p und der Masseinheit kg·m/s oder N·s  (!)
4.    die Energie, ein Skalar mit dem Formelzeichen E und der Masseinheit Joule.

Warum gerade diese vier und keine anderen? Die Antwort auf diese Frage ist das zentrale Credo der klassischen Physik: In einem abgeschlossenen System bleibt von diesen vier Grössen die Gesamtmenge konstant, was sich auch immer abspielen mag! Man kann elektrische Ladungen weder erzeugen noch vernichten, man kann sie trennen oder verschieben, aber die Summe aller positiven und negativen Ladungen bleibt insgesamt immer konstant. Und die Gesamtmasse des Schrotthaufens nach einer Massenkollision ist gleich gross wie die Summe der Massen der einzelnen beteiligten Autos vor der Karambolage. Aber der Impuls, wird der nicht vernichtet, wenn ich unsanft auf dem Boden lande? Nein, nicht wenn man alle beteiligten Stosspartner einbezieht (alle diese Erhaltungssätze gelten nur in abgeschlossenen Systemen!). Die Erhaltung der gesamten Energie schliesslich ist eine Erkenntnis der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden, es lassen sich nur verschiedene Erscheinungsformen derselben ineinander umwandeln.

Neben diesem Kern stehen auf einem Sockel die Bewegungsgesetze von Newton:

1.    Das Gesetz ‘actio = reactio’ : Es gibt keine einzelnen Kräfte, sondern nur Wechselwirkungen
2.    Das Trägheitsgesetz:  Falls keine Kräfte wirken gilt  v = konstant (inbegriffen der Fall  v = 0)
3.    Die Beschreibung der Wirkung von Kräften durch   F = dp/dt

Das erste Gesetz ist (zusammen mit dem dritten) äquivalent zur Erhaltung des Gesamtimpulses. Wir wollen es trotzdem nicht weglassen, weil es eine sehr tiefe Einsicht mit lateinischer Prägnanz auf den Punkt bringt. Das zweite Gesetz ist ein Spezialfall des dritten und bleibt nur stehen, um Aristoteles ein bisschen zu ärgern. Das dritte Gesetz ist aber unverzichtbar: Es sagt uns, wie man die zukünftige Bewegung eines Teilchens berechnen kann, wenn man die wirkenden Kräfte sowie den momentanen Bewegungszustand kennt.

Damit gilt es zu klären, welche Kräfte es denn gibt. Die Antwort ist wiederum leicht überschaubar.
Es gibt nur drei Kräfte, die von drei verschiedenen Kraftfeldern herrühren:

1.    Die Gravitationskraft, welche auf Massen wirkt:    FN = m·g ( N wie Newton ... )
2.    Die Coulombkraft, welche auf elektrische Ladungen wirkt:    FC = q·E
3.    Die Lorentzkraft, welche auf schnelle elektrische Ladungen wirkt:   FL =  q·(v x B)

Woher stammen aber die entsprechenden Felder, also das Gravitationsfeld g, das elektrische Feld E und das magnetische Feld B ? Für das Gravitationsfeld hat Newton schon die Antwort gegeben: Es wirkt nicht nur auf Massen, sondern es wird auch von diesen erzeugt. Die genaue Beschreibung gibt sein Gravitationsgesetz. Elektrische und magnetische Felder werden hingegen von ruhenden und bewegten elektrischen Ladungen erzeugt. Die genaue Beschreibung wird hier von den schon oft erwähnten vier Maxwell’schen Gleichungen gegeben. Diese Gleichungen, welche die Entstehung der Kraftfelder beschreiben, können wir hier nur erwähnen und nicht detailliert vorstellen.

5 Gleichungen beschreiben also vollständig, woher die Kraftfelder rühren, 3 Gleichungen beschreiben, auf wen und in welche Richtung diese wirken, und eine weitere Gleichung beschreibt die Folgen für die Bahn eines Teilchens. Zusammen mit den 4 Erhaltungssätzen haben wir damit die Essenz der klassischen Physik auf einer einzigen Seite dargestellt!

Es ist eine enorme geistige Leistung, die Fülle der Phänomene, die sich einem Beobachter der äusseren Welt (deren Existenz hier einfach postuliert sei) zeigen, auf diesen kleinen Kern von Lehrsätzen zurückzuführen. Welche Ökonomie der Begriffe, welche Sparsamkeit bei der Setzung von Axiomen! Die geometrischen Details und die Materialzusammensetzung in einer Apparatur mögen noch so kompliziert sein - alles, was sich darin abspielt, wird durch unsere Handvoll von Gleichungen vollständig beschrieben.

Mechanik, Wärmelehre und Elektromagnetismus umfassen dabei alle Phänomene, die im 19. Jh. als zur Physik gehörig betrachtet wurden, und nur ganz wenigen Physikern wie Lorentz, Planck und Poincaré war um 1900 bewusst, dass dieses Bild nicht so harmonisch, vollständig und in sich geschlossen war, wie die meisten damals meinten. Die Bedrohung kam auch nicht von der Seite der ‘Atomisten’. Dass die Materie körnig aufgebaut ist und nicht kontinuierlich, stört eigentlich nicht weiter. Aber da war das Problem der Bewegung der Erde durch den Äther und die damit erwarteten Schwankungen der Lichtgeschwindigkeit (siehe A3). Ein weiteres Problemfeld hat Max Planck 1900 eröffnet: Es gelang ihm zwar, die experimentell gut erforschte Frequenzverteilung in der Strahlung eines ‘Schwarzen Körpers’ von einer bestimmten Temperatur theoretisch abzuleiten, er musste dabei aber ziemlich abenteuerlichen Hypothesen über die ‘Körnigkeit’ der Strahlungsenergie und eine eigenartige statistische Zählweise verwenden. Überdies wurden mit der Röntgenstrahlung, dem strahlenden Radium des Ehepaars Curie, der Alpha-, Beta- und Gammastrahlung von Rutherford und anderen fast jedes Jahr ganz neue Forschungsgebiete eröffnet. Das grossartige Gebäude der klassischen Physik war also kaum fertig errichtet, als sich schon Risse darin zeigten und diverse Anbauten erforderlich wurden.

Im nächsten Abschnitt sehen wir in der Übersicht, welche Korrekturen die SRT an diesem Kern der klassischen Physik vornimmt, um den einen grossen Riss darin erfolgreich zu sanieren: Die Inkompatibilität der Newton’schen Mechanik, des Galilei’schen Relativitätsprinzips und der Maxwell’schen Gleichungen.


Auch am anderen grossen Riss, der sich mit Planck’s Arbeit zur Strahlung auftat, hat Einstein 1905 erfolgreich gearbeitet. Wie schon in A4 erwähnt hat er die entsprechende Arbeit “Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichtes betreffenden heuristischen Gesichtspunkt“ [12-197ff] in einem Brief an Conrad Habicht selber als ‘sehr revolutionär’ bezeichnet.
Weitere Arbeiten desselben Frühjahrs waren statistischer Natur und lieferten starke neue Argumente für die Seite der ‘Atomisten’.