I1    Die Periheldrehung des Merkur


Zöge ein einziger Planet seine einsame Bahn um die Sonne, so müsste er dies nach Kepler und Newton exakt auf einer in sich geschlossenen Ellipse tun. Schon Newton hat erkannt, dass das im Sonnensystem nicht mehr der Fall ist, da die Planeten einander ebenfalls gravitativ beeinflussen. Eine exakte Lösung nur schon des ‘Dreikörper-Problems’ konnten aber auch grosse Leute wie Poincaré nicht finden (er ist dabei aber schon tief in das Gebiet eingedrungen, welches heute den Namen ‘Chaostheorie’ trägt). Numerisch-iterativ lassen sich heute die Bahnen aller Planeten mit hoher Präzision für lange Zeiträume berechnen. Es zeigt sich, dass sich die Apsidenlinien (die Gerade durch den sonnenfernsten und den sonnennächsten Punkt der Bahn) unter dem Einfluss der äusseren Planeten ganz langsam drehen, und zwar in derselben Richtung, in der die Planeten umlaufen. Daraus resultiert eine rosettenartige Bahn, wobei der Effekt in der Graphik stark übertrieben dargestellt ist. Diese numerischen Simulationen haben übrigens auch gezeigt, dass das Sonnensystem noch über sehr lange Zeiträume stabil bleiben wird [36-315ff].

 
Dabei klafft allerdings eine kleine Differenz zwischen den errechneten Werten für diese Periheldrehung und denjenigen, welche die beobachtende Astronomie gemessen hat. Die folgende Tabelle gibt die numerischen Werte in den Einheiten ‘Bogensekunden pro Jahrhundert’ an. Die Unschärfe der eingetragenen Werte kann der Spalte ‘Differenz’ entnommen werden:

Die Differenz zwischen dem berechneten und dem gemessenen Wert ist insbesondere beim Merkur so gross, dass sie nach einer Erklärung verlangt. Der französische Astronom Urbain Le Verrier, der 1845 aus den Bahnstörungen des Planeten Uranus die Existenz und die Position des neuen Planeten Neptun errechnet hat, postulierte daher 1859 die Existenz eines weiteren Planeten Vulkan, welcher seine Bahn noch näher bei der Sonne als Merkur ziehen sollte.
Die ART erklärt genau diese Differenz zwischen der Rechnung innerhalb der Newton’schen Theorie und der Beobachtung. Einstein war überglücklich, als er Ende 1915 ausrechnen konnte, dass seine neue Theorie für den Merkur eine zusätzliche Periheldrehung von gerade 43 Bogensekunden pro Jahrhundert prognostizierte! Er leitete die folgende Formel ab:

wo ∆φ die zusätzliche Drehung pro Umlauf im Bogenmass, RS der Schwarzschildradius der Sonne, a die Länge der grossen Halbachse der Planetenbahn und ε deren numerische Exzentrizität bedeuten.


Der Effekt nimmt also mit zunehmendem Abstand a von der Sonne ab und ist bei stark elliptische Bahnen grösser als bei kreisförmigen. Daher drängt sich Merkur als Kandidat richtig auf. Kleine Exzentrizitäten wie bei der Venus schwächen nicht nur den Effekt, sondern machen es auch schwer, diese Periheldrehung zu beobachten. Die Werte in der letzten Spalte der Tabelle erhält man aus Einsteins Formel, wenn man deren Ergebnis mit der Anzahl Umläufe in 100 Jahren multipliziert und das Resultat noch aus dem Bogenmass in Winkelsekunden umrechnet (Aufgabe 1).

Dass dieser Effekt auftreten muss ergibt sich mit Epsteins ‘Raumbeule’ fast von selbst [10-213]:


In der ersten Zeichnung ist der Raum flach und der Planet zieht seine Ellipsenbahn, allerdings bei Epstein in unkonventioneller Richtung (sonst blickt man immer von Norden auf die Ekliptik). Soweit die Situation nach Newton.

 

 

 


Nun schneiden wir die Ebene entlang der Apsidenlinie auf. Den Schnitt führen wir vom Aphelium bis zur Sonne.

 

 

 

 
Wie im Abschnitt H6 besprochen soll sich nun ein Kegel erheben mit der Spitze in der Sonne. Dazu müssen wir die Gebiete beidseits des Einschnitts etwas übereinander schieben (so bastelt man eben einen Kegel!). Das führt zwangsweise zu einem Voranschreiten des Apheliums in diejenige Richtung, in welcher der Planet umläuft!

 

 

 

Erstaunlicherweise ist es aber sogar möglich, aus Epsteins Pappmodell auch die Grössenordnung des Phänomens herauszuholen. Fast ohne Rechnung kommen wir der Formel erstaunlich nahe, für deren Herleitung Einstein sich mit elliptischen Integralen herumschlagen musste.

Die rote Funktion soll den Querschnitt durch Epsteins ‘Raumbeule’ darstellen (die Aufgabe 5 in I10 befasst sich mit dieser Querschnittfunktion). Die Zentralmasse sitzt im Nullpunkt, und mit zunehmendem Abstand x vom Nullpunkt wird die Raumkrümmung kleiner. Wenn unser Planet den mittleren Abstand a von der Zentralmasse hat, können wir dort die Raumbeule durch einen Kegel lokal approximieren. Den passenden Neigungswinkel φ zwischen der Mantellinie dieses Epstein-Kegels und der Ebene durch das Zentrum der Zentralmasse können wir für den Ort a des Planeten leicht bestimmen. Es ist  cos(φ) = ∆x(r,∞) / ∆x(r,r)  =  1 – α / a  nach G4. Hat der Kegel eine Mantellinie der Länge 1, so misst sein Grundkreisradius also
(1 – α / a ). Wir schneiden jetzt diesen Kegel entlang einer Mantellinie auf und drücken den Kegelmantel flach:

Wie gross ist der Winkel β des fehlenden Sektors?

β/(2π) ist gleich dem Verhältnis der ‘fehlenden’ Bogenlänge zum ganzen Umfang, also
β/(2π) = [2π – 2π·(1– α/a )] /(2π) =  1 – (1 – α/a ) =  α/a

Wir erhalten damit für β den Ausdruck
β= (2π)· α / a  = π·2·α/a =  π· RS / a

Richten wir den Kegel wieder auf, so wird ein Kreis oder eine Ellipse etwa um diesen Winkel β ‘überschoben’, β gibt also gerade den Winkel an, um welchen die Apsidenlinie pro Umlauf voranschreitet.

 
Wir erhalten nur ein Drittel des korrekten Wertes (vergleiche mit der Formel weiter oben in diesem Abschnitt). Das darf uns nicht grämen, wir haben ja nur den Einfluss der Raumkrümmung berücksichtigt, und auch dies mit sehr bescheidenen Mitteln. Von der Grössenordnung her liegen wir immerhin richtig!