E1    Der symmetrische Faustschlag


Engländer und Franzosen waren viele Jahre auf Kriegsfuss miteinander. Sie haben sich aber nicht nur politisch und militärisch bekämpft, sondern sie haben auch darüber gestritten, ob die ‘Wucht’ (lat. ‘impetus’) eines Geschosses linear oder quadratisch mit der Geschwindigkeit zunähme. Auf der Insel wurde eine geometrisch-vektorielle Betrachtungsweise bevorzugt, und entsprechend hat man die ‘Wucht’ durch  p = m·v  beschrieben. Auf dem Kontinent rechnete man lieber mit skalaren Grössen wie  E = 0.5·m·v2 . Diese Vorlieben zeigen sich heute noch in der Umgangssprache: Muss ein Engländer eine Grösse bestimmen, ‘then he will figure it out’, während der Franzose ‘va calculer ça’.

Heute wissen wir, dass beide Grössen, der Impuls und die kinetische Energie, ihre Bedeutung haben, und es wundert uns daher nicht, dass sowohl die Franzosen als auch die Engländer richtige Resultate bekommen haben. Das Beispiel zeigt aber sehr schön, wie sich auch die physikalischen Begriffe allmählich herauskristallisieren mussten und nicht schon bei der ersten Einführung ihre heutige Präzision besassen. Und um genau diese Begriffe, nämlich die (träge) Masse, den Impuls und die kinetische Energie, geht es in diesem Kapitel.

Wir müssen zuerst vom Impuls sprechen, dessen Definition p = m·v  wir beibehalten ! Sobald geklärt ist, wie sich die träge Masse vom einen Bezugssystem ins andere transformiert, ist auch geklärt, was mit dem Impuls geschieht, denn die Transformation der Geschwindigkeiten kennen wir nach D4 und D5 schon. Ohnehin sollte klar sein, dass der Impuls nicht nur in der SRT eine hoch-relative Grösse ist: Im Ruhesystem eines Körpers selber ist sein Impuls ja immer null.

Unsere Herleitung folgt der schönen Darstellung in [10-136ff]. Die Darstellung ist deshalb schön, weil sie die Gleichheit zweier Grössen aus der Symmetrie der Anordnung in einem Gedankenexperiment folgert. Die beiden Zwillinge Peter und Danny sollen auf zwei Einstein-Zügen auf einer langen, geraden Trasse aneinander vorbei rasen. Dabei führen sie einen völlig symmetrischen Faustschlag gegeneinander, also quer zur Fahrtrichtung des Zuges, aus:

Die Symmetrie der Anordnung lässt keinem der beiden Zwillige die Möglichkeit, stärker zuzuschlagen als der andere. Beide Fäuste sind (in Ruhe gemessen!) gleich schwer, beide Fäuste sind im eigenen System gleich schnell (u’ = -w). Jederzeit ist für beide die Summe der Impulse in der y-Richtung, also quer zur Fahrtrichtung, null. Wir betrachten den Schlag mit Peter im schwarzen, ungestrichenen System und sehen die Quergeschwindigkeit u’ von Danny’s Faust nach D5 verzögert. Dass Danny’s Faust dennoch einen ebensogrossen Impuls mitführt wie diejenige von Peter können wir uns nur damit erklären, dass Danny die Masse seiner Faust irgendwie erhöht hat. An dieser Stelle erzählt Epstein die Geschichte vom alternden Rausschmeisser in der Bourbon Street, der nicht mehr so schnell zuschlagen kann wie früher und dies dadurch kompensiert, dass er eine Rolle Münzen in die Faust nimmt, um dieser die alte Durchsetzungskraft zu geben ...

Wir rechnen die Angelegenheit nüchtern durch und gehen dabei davon aus, dass die Masse von der Relativgeschwindigkeit abhängt. Mit v bezeichnen wir (wie immer) die Relativgeschwindigkeit in der x-Richtung, also der Fahrtrichtung der Züge:

py (Danny) = - py (Peter) gilt aus Symmetriegründen für Peter und für Danny
mv+u · u =  - mw · w für Peter und uns !            u = u’ · √ = - w · √   (nach D5)  liefert
mv+u · ( -w · √  ) =  - mw · w            
Wir dividieren durch  -w und erhalten
mv+u · √   =   mw v und u stehen dabei senkrecht und sind vektoriell zu addieren!

Diese Beziehung gilt für beliebig kleine Quergeschwindigkeiten u’ = -w , im Grenzfall gilt sie also auch für
u’ = -w = 0 . Dann wird auch u = 0, und  mv+u können wir schreiben als mv.  mw = mo bedeutet dann die Masse der Faust in Ruhe, die sogenannte Ruhemasse. Damit haben wir aber die Abhängigkeit der Masse von der Relativgeschwindigkeit v gefunden: Die träge Masse eines Körpers nimmt mit der Relativgeschwindigkeit zu, und es gilt
 

Diese ‘dynamische Masse’  mv ist auch für den relativistischen Impuls einzusetzen:
 

Die Masse eines Teilchens nimmt also mit seiner Geschwindigkeit zu. Ohne die Berücksichtigung dieses relativistischen Effekts würde keiner der modernen Teilchenbeschleuniger je funktionieren! Die Massenzunahme ist nämlich dramatisch, wenn sich die Geschwindigkeit der Teilchen der Lichtgeschwindigkeit nähert: Das Verhältnis  mv / m0 folgt ja der Funktion  1 / √ , und für  v –> c  geht diese Funktion gegen unendlich:

 


Wir erhalten damit eine ganz neue Begründung dafür, dass c eine Grenzgeschwindigkeit ist: Die zu beschleunigende Masse wächst gegen unendlich, wenn sich die Geschwindigkeit v der Lichtgeschwindigkeit nähert! Der Körper setzt somit einer weiteren Beschleunigung einen immer grösseren Widerstand entgegen. Dies werden wir noch besser verstehen, wenn wir die Fragen um den Begriff der Energie behandelt haben.