A1      Newtons Fundamente der klassischen Physik


In seinem grossartigen Werk “Philosophiae naturalis principia mathematica” hat Newton 1687 auf der Grundlage der Euklidischen Geometrie die Vorarbeiten der ‘Riesen’ Kepler, Galilei, Descartes und Huygens in eine einheitliche und umfassende Theorie eingebettet, die man heute die Newton’sche Mechanik nennt ([01], deutsche Ausgabe [02]). Keplers Gesetze zu den Planetenbewegungen, Galileis Fallgesetze, Descartes Stossgesetze und die Analyse der Kreisbewegung durch Huygens, die Bewegungen der himmlischen und der irdischen Körper werden allesamt zurückgeführt auf nur 3 Axiome und 1 Kraftgesetz. In seinem Buch wendet Newton seine eigene Theorie sofort erfolgreich an, um die Abplattungen der Erde und des Jupiters zu berechnen, Ebbe und Flut zu begründen und vieles andere mehr.

Der Erfolg seines mathematischen Ansatzes hat den Gang der Geistesgeschichte weit über die Naturwissenschaften hinaus beeinflusst, und die folgenden zwei Jahrhunderte haben diesen Erfolg nur noch gemehrt. Umso schwieriger war es, sich von den grundlegenden Vorstellungen zu lösen, auf denen Newtons Theorie aufbaut. Es sind dies Newtons Konzepte von der Zeit, vom Raum und von der trägen Masse eines Körpers.


Newtons Zeit

Der Meister hat es in seinem Buch selber schön ausformuliert:

“Zeit, Raum, Ort und Bewegung sind allen wohlbekannt. Jedoch muss darauf hingewiesen werden, dass die gewöhnlichen Leute gerade diese Grössen nur aufgrund ihrer Beziehung zu den feststellbaren Dingen erfassen. Davon rühren manche falsche Vorstellungen her, und um diese zu beseitigen, verständigt man sich darüber, dass sich ebendiese Grössen in absolute und relative, wahre und scheinbare, mathematische und allgemein übliche auftrennen lassen.
Die absolute, wahre und mathematische Zeit, in sich und ihrer Natur nach ohne Beziehung zu irgendetwas Äusserem, fliesst gleichmässig dahin und wird auch als Dauer bezeichnet. Eine relative, scheinbare und allgemein übliche Zeit ist irgendein, durch eine Bewegung feststellbares äusseres Mass (gleichgültig ob ein genaues oder ungleichmässiges) für die Dauer, welche die gewöhnlichen Leute an Stelle der wahren Zeit benutzen, wie zum Beispiel eine Stunde, ein Tag, ein Monat, und ein Jahr.”  [02-27f]

Und eine Seite später, also auf p.29 :

“Die absolute Zeit wird in der Astronomie von einer relativen Zeit mit Hilfe der Zeitgleichung unterschieden. Die natürlichen Tage, die von den gewöhnlichen Leuten für gewissermassen gleich grosse Zeitmasse gehalten werden, sind nämlich verschieden lang. Diese Ungleichheit korrigieren die Astronomen, um die Himmelsbewegungen auf der Grundlage einer wahren Zeit zu messen.”

Newtons wahre, absolute, mathematische Zeit verstreicht für alle und an allen Orten gleich, kontinuierlich und regelmässig. Ihr Gang kann nicht beeinflusst werden etwa dadurch, dass man heizt, sich beschleunigt oder auf den Mond fliegt. Zwei verschiedene Beobachter messen für denselben Vorgang immer dasselbe Zeitintervall (bis auf Ungenauigkeiten infolge der Unvollkommenheit ihrer Uhren). Auch Atomuhren müssen im Labor genau gleich ticken wie im Orbit. Eine Uhr ist perfekt, wenn die Ableitung der angezeigten Zeit nach der wahren Zeit konstant ist, wenn die entsprechende zweite Ableitung also null ist.

Auf diese wahre und absolute Zeit bezogen wird die Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse zu einer absoluten Tatsache. Sie ist unabhängig vom Standort oder vom Bewegungszustand der Beobachter. Die Zeit fliesst für alle gleich, so wie die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte.


Newtons Raum


Beim Raum oder dem Ort ist die Sache etwas komplizierter, obwohl Newton ebenfalls einen wahren und absoluten Raum postuliert:

“Der absolute Raum, seiner Natur nach ohne Beziehung zu etwas Äusserem, bleibt immer gleich und unbeweglich. Ein relativer Raum ist für diesen Raum ein Mass bzw. eine beliebige bewegliche Dimension, die von unseren Sinnen durch ihre Lage zu den Körpern bestimmt wird und von den gewöhnlichen Leuten anstelle des unbeweglichen Raumes benutzt wird, wie zum Beispiel die durch ihre Lage zur Erde bestimmte Dimension eines Raumes unterhalb der Erdoberfläche, eines Raumes in der Atmosphäre oder eines Raumes im Himmel. Der zu einem Körper gehörende absolute und der zu demselben Körper gehörende relative Raum sind der Gestalt und der Grösse nach identisch, aber sie bleiben nicht immer der Zahl nach identisch. Nämlich wenn sich die Erde bewegt, um ein Beispiel anzuführen, so wird der Raum unserer Atmosphäre, der relativ und bezüglich der Erde gesehen immer derselbe bleibt, von dem absoluten Raum bald der eine Teil sein, bald von ihm ein anderer Teil, und so wird er sich, absolut gesehen, beständig verändern.”  [02-28]

Und auf der nächsten Seite:

“So, wie die Anordnung der Zeitintervalle unveränderlich ist, ist auch die Anordnung der Raumteile unveränderlich. Sollten sich diese aus ihren Orten heraus bewegen, dann werden sie sich gewissermassen aus sich selbst heraus bewegen. Denn die Zeiten und Räume sind sozusagen die Orte ihrer selbst und aller Dinge. Alles befindet sich hinsichtlich der Aufeinanderfolge in der Zeit, hinsichtlich der Ordnung der Lage im Raum. Das Wesentliche an ihnen ist, dass sie Orte sind, und dass sich primäre Orte bewegen, ist absurd. Diese sind also absolute Orte, und nur die Verlagerungen aus solchen Orten heraus sind absolute Bewegungen.”  [02-29] 

Im Gegensatz zur absoluten Zeit, der wir hilflos ausgeliefert sind, können wir uns aber im absoluten Raum bewegen. Newton sieht klar, dass man dabei drei Fälle unterscheiden muss:

  1. Beschleunigte Bewegungen längs einer Geraden: Sie lassen sich leicht erkennen an den dabei  auftretenden Trägheitskräften.

  2. Rotationen relativ zum absoluten Raum: Sie sind erkennbar an den Fliehkräften, die dabei auftreten. Es ist diese Absolutheit der Rotation (Rotation relativ wozu eigentlich??), welche Newton von der Existenz eines absoluten Raumes überzeugt hat. Bei seiner berühmten Beschreibung des Eimerversuches  [02-30f]  betont er, dass er diesen Versuch selber durchgeführt habe.

  3. Gleichförmige Bewegungen entlang einer Geraden: Sie sind dadurch gekennzeichnet dass bei ihnen keine zusätzliche Kräfte auftreten. Es lässt sich mechanisch also prinzipiell nicht feststellen, ob man im absoluten Raum ruht oder ob man sich durch diesen mit konstanter Geschwindigkeit bewegt.

Dies führt uns zum wichtigen Begriff des Inertialsystems.


Inertialsystem

Räumliche Koordinatensysteme, welche nicht beschleunigt sind und nicht rotieren, nennt man Inertialsysteme. Es sind dies also diejenigen Koordinatensysteme, welche in Newtons absolutem Raum ruhen oder sich darin gleichförmig bewegen. Solche Koordinatensysteme sind alle gleichermassen geeignet, mechanische Vorgänge zu beschreiben: Nur in solchen Koordinatensystemen braucht man keine ‘Scheinkräfte’ einzuführen.
Eine oft verwendete praktische Definition eines Inertialsystems ist die folgende: Inertialsysteme sind solche Koordinatensysteme, die sich relativ zu den Fixsternen nicht bewegen. Warum ist diese Definition streng genommen vollkommen unbrauchbar ?
Längen, Abstände und Winkel können aber in beliebigen, auch nicht-inertialen Koordinatensystemen gemessen werden, alle Beobachter werden dieselben Werte messen, genau so, wie sie für einen dynamischen Vorgang (ein Ziegel fällt vom Dach auf die Strasse) dieselbe Zeitdauer messen werden. Die Länge eines Objektes hängt auf keinen Fall davon ab, wie schnell es sich beispielsweise bewegt.

 




 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Newtons Massen
 
Jeder materielle Körper ist mit einer bestimmten Masse ausgestattet, welche sich darin zeigt, dass sich der Körper dagegen sträubt, beschleunigt zu werden:  F = m·a . Die für eine bestimmte Beschleunigung  a  benötigte Kraft ist direkt ein Mass für die träge Masse  m  des Körpers. Newton unterscheidet sorgfältig zwischen der trägen und der schweren Masse, und er hat eigene Vesuche angestellt, um sich davon zu überzeugen, dass die träge und die schwere Masse eines Körpers immer proportional sind zueinander:
“... Ich meine im folgenden mit den Ausdrücken ‘Körper’ bzw. ‘Masse’ ohne Unterschied diese Materiemenge. Man kennt diese durch das Gewicht des jeweiligen Körpers. Denn ich habe mit Hilfe sehr genau durchgeführter Pendelversuche herausgefunden, dass sie dem Gewicht proportional ist, wie später noch gezeigt werden wird.”  [02-23]

Diese Materiemenge ist natürlich vom Bewegungszustand des Körpers unabhängig, ebenso wie zB vom Luftdruck oder von der Temperatur. Die Masse eines Körpers ist eine Konstante, die ihm zugeordnet ist, solange er nicht etwa zerstückelt wird.

Dass die träge und die schwere Masse eines Körpers einander proportional sind (wobei der Proportionalitätsfaktor nur von den gewählten Masseinheiten abhängt und daher auch 1 sein könnte) ist für Newton eine nicht erklärbare Tatsache, die er sogar misstrauisch mit Experimenten geprüft hat [02-303ff]. Im Abschnitt G2 auf p.102 werden wir sehen, dass Einstein die Gleichheit der trägen und der schweren Masse zum Grundprinzip erheben, sie ist dann kein Faktum mehr, welches erklärt werden muss, sondern ein Axiom.

Ort, Zeit und die Masse eines Körpers sind die Grundbegriffe, auf denen Newton seine Mechanik aufgebaut hat. Alle anderen mechanischen Grössen lassen sich auf diese drei zurückführen (machen Sie das zB für den Druck !). Dass Ort, Zeit und Masse fundamental sind, spiegelt sich auch darin, dass die zugehörigen Masseinheiten (Sekunde, Meter und Kilogramm) bis 1983 Basisgrössen waren. Pendel, Massstab und Gewichtsstein sind deshalb auch die Insignien des American Institute of Physics.

 


Tatsächlich werden sich alle drei dieser Basisgrössen im Rahmen der Relativitätstheorie als ‘relativ’ herausstellen; von Newtons absoluter Zeit und seinem absoluten Raum wird wenig übrigbleiben. Auch die Unabhängigkeit der trägen Masse vom Bezugssystem muss aufgegeben werden. Etwas hart könnte man das auch so formulieren: Die scheinbar selbstverständlichen Grundannahmen von Newton haben sich allesamt als Vorurteile herausgestellt. Dies zu erkennen und auszusprechen brauchte doch eine gewisse Kühnheit nach dem enormen Erfolg der Newton’schen Mechanik!