A3      Maxwells Theorie des Elektromagnetismus ist inkompatibel


Einstein hat immer sehr grundsätzlich gedacht und argumentiert. In diesem Abschnitt soll herausgearbeitet werden, welche Risse oder Widersprüche im Gebäude der Physik er mit seiner Speziellen Relativitätstheorie (SRT) beheben wollte.

Stellen Sie sich den Kellner im Speisewagen eines Zuges vor, der mit 100 km/h auf einer langen geraden Strecke dahingleitet. Der Kellner bewege sich mit 5 km/h im Speisewagen in und gegen die Fahrtrichtung des Zuges. Welche Geschwindigkeiten hat er dabei eigentlich ?

Wir lernen daraus zweierlei: Erstens ist es offensichtlich, dass Geschwindigkeiten relative und nicht absolute Grössen sind. Sie beziehen sich immer auf ein bestimmtes Koordinatensystem. Wir haben die Wahl, ob wir unser Koordinatensystem am Speisewagen festmachen oder an den Eisenbahnschwellen. Sitzen wir ‘in Ruhe’ im Speisewagen, so bewegt sich der Schaffner mit ±5 km/h vor und zurück.

Schon Galilei und Descartes war es aber klar, wie schnell sich der Schaffner in einem Bezugssystem bewegt, in welchem die Schienen ruhen und der Zug sich mit 100 km/h bewegt. Die Geschwindigkeiten des Zuges und diejenige des Schaffners relativ zum Zug addieren sich einfach: Er bewegt sich mit 105 km/h oder mit 95 km/h, in jedem Fall in Fahrtrichtung des Zuges. Wir lernen also zweitens, dass sich in der Newton’schen Mechanik Geschwindigkeiten einfach addieren. (Sind die Geschwindigkeiten nicht parallel wie in unserem Beispiel, so müssen nicht nur die Vorzeichen, sondern auch die Richtungen berücksichtigt werden. Die Geschwindigkeiten sind dann als Vektoren zu addieren.)

Wir werden in D1 die Korrektheit dieser Geschwindigkeitsaddition innerhalb der Newton’schen Mechanik noch formal beweisen. Der Beweis zeigt schön, wie insbesondere die Idee der absoluten Zeit dabei vorausgesetzt wird.

Wo ist denn das Problem?

Dem Physiker James Clerk Maxwell gelang es ab 1856, die reichen Forschungsresultate von Michael Faraday und anderen zu den Gebieten der Elektrizitätslehre und des Magnetismus in wenigen Formeln zusammenzufassen. 1862 publizierte er diese erstmals in seiner Abhandlung “On Physical Lines of Forces”, 1873 erschien dann in zwei Bänden sein Hauptwerk “A Treatise on Electricity and Magnetism”. Maxwell erkannte rein mathematisch, dass seine Gleichungen es erlauben, dass sich ein elektrisches und magnetisches Feld wellenartig im Raum ausbreiten. Schon 1886 konnte dann Heinrich Hertz die Existenz solcher elektromagnetischer Wellen experimentell nachweisen.

Für die Ausbreitungsgeschwindigkeit dieser Wellen im Vakuum ergibt sich rein mathematisch der Ausdruck

wo ε0 die Elektrische Feldkonstante ist, die z.B. auch im Kraftgesetz von Coulomb auftritt, und μ0 die entsprechende magnetische Feldkonstante bedeutet. Schon Maxwell ist es natürlich aufgefallen, dass dieser Wert genau der Lichtgeschwindigkeit im Vakuum entspricht (welche sich übrigens nur ganz wenig von derjenigen in Luft unterscheidet). Das bedeutet aber, dass auch diese Lichtgeschwindigkeit eine Naturkonstante sein muss, genauso wie die elektrische und die magnetische Feldkonstante!

In der wunderschönen Theorie von Maxwell, die ja aus einer grossen experimentellen Basis herausdestilliert worden ist und die sich auch nachher experimentell glänzend bestätigte, ist also die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum eine Naturkonstante. Wenn das Relativitätsprinzip nicht nur für die Mechanik gilt, so gelten die Maxwellschen Gleichungen genauso in jedem beliebigen Inertialsystem, mit denselben Werten der auftretenden Naturkonstanten. Die Lichtgeschwindigkeit wäre also eine Konstante, deren Wert in jedem Inertialsystem derselbe wäre. Das nach vorne abgestrahlte Licht der vorwärts fahrenden Lokomotive müsste genau gleich schnell sein wie dasjenige einer stillstehenden oder gar rückwärtsfahrenden! Die Lichtgeschwindigkeit sollte also vom Bewegungszustand der Lichtquelle unabhängig sein. Dies steht aber im Widerspruch zur Addition der Geschwindigkeiten, wie wir sie eben als Tatsache innerhalb der Newtonschen Mechanik präsentiert haben.

Die Newton’sche Mechanik, das allgemeine Relativitätsprinzip und Maxwells Theorie des Elektromagnetismus sind als Paket unvereinbar!

James Clerk Maxwell (1831 - 1879)
 

Um das Dilemma noch deutlicher zu beschreiben, benützen wir die folgenden Abkürzungen:

N mm Newtons Mechanik mit absoluter Zeit und absolutem Raum
R mm Allgemeines Relativitätsprinzip: Alle Inertialsysteme sind gleichberechtigt
M mmMaxwells Theorie des Elektromagnetismus

Man kann nicht N, R und M gleichzeitig haben. Aus N und R folgt die Addition von Geschwindigkeiten, das Licht der vorwärtsfahrenden Lok müsste sich im Geleisesystem mit  c + 100 km/h bewegen, was nicht zu M passt. Denn aus M und R folgt die Konstanz der Lichtgeschwindigkeit, das Licht der vorwärtsfahrenden Lok hat in jedem Inertialsystem die Geschwindigkeit c , der Messwert ist unabhängig vom Bewegungszustand der Quelle und des Empfängers!

Welche Möglichkeiten bleiben jetzt ?

Man kann an N festhalten und R auf die Mechanik beschränken. Die schönen Gleichungen von M gelten dann unverändert nur, wenn das Bezugssystem in Newtons absolutem Raum ruht, und sie sind für andere Inertialsysteme anzupassen. Hässlich!

Es läuft aber beinahe auf dasselbe hinaus, wenn man an N und M festhält und R preisgibt. Der Experimentator hat nun die zusätzliche Aufgabe festzustellen, mit welcher Geschwindigkeit er sich durch den absoluten Raum bewegt, in welchem das Ausbreitungsmedium für die elektromagnetischen Wellen, der sogenannten Äther, ruht. Dieser Aufgabe haben sich A. Michelson und E. Morley angenommen, einem Vorschlag von Maxwell folgend.

Oder man kann versuchen, an R und M festzuhalten, muss dann aber eine ‘verbesserte’ Version von N liefern! Vor Einstein hatte niemand den Mut, diesen Weg konsequent zu verfolgen. Dennoch konnte Einstein von vielen Vorarbeiten profitieren: FitzGerald und Lorentz haben eine Formel für die ‘Stauchung’ der Apparate in Bewegungsrichtung der Erde durch den Äther angegeben. Lorentz hat auch schon kurz vor 1900 eine ‘Lokalzeit’ eingeführt, um die Ergebnisse von gewissen Experimenten zu erklären. Der grosse Mathematiker Poincaré hat für diese Transformationen 1905 den Begriff ‘Lorentz-Transformationen’ geprägt und (gleichzeitig mit und unabhängig von Einstein) gezeigt, dass diese mathematisch eine Gruppe bilden und dass M unter solchen Lorentz-Transformationen invariant ist. Die Frucht war also überreif (zur Geschichte der SRT verweise ich auf Kapitel 6 in [07]).

Man könnte sogar sagen, dass es eigentlich ästhetische Gründe waren, die Einstein zum Festhalten an R und M bewogen haben. Die Einleitung seines berühmten Artikels von 1905 beginnt folgendermassen:

“Dass die Elektrodynamik Maxwells - wie dieselbe gegenwärtig aufgefasst zu werden pflegt - in ihrer Anwendung auf bewegte Körper zu Asymmetrien führt, welche den Phänomenen nicht anzuhaften scheinen, ist bekannt. Man denke z.B. an die elektrodynamische Wechselwirkung zwischen einem Magneten und einem Leiter. Das beobachtbare Phänomen hängt hier nur ab von der Relativbewegung von Leiter und Magnet, während nach der üblichen Auffassung die beiden Fälle, dass der eine oder der andere dieser Körper der bewegte sei, streng voneinander zu trennen sind.”   [12-141]

Die Lektüre dieses Artikels setzt (mindestens im ersten Teil) keine höheren Kenntnisse in Mathematik voraus und wird dem Leser sehr empfohlen.